Ich bin gechillt!

Fit und aktiv, selbstbestimmt und dynamisch. Immer ‚in action‘. So sollen alte Menschen heute sein. Antiaging. Silberne Surferlebnisse. Goldener Herbst. Was für ein Stress!

Einfach im Schaukelstuhl sitzen. Auf einer Schaukel träumen. Im Moment leben. In Ruhe nachdenken über das, was war.  Sich innerlich vorbereiten auf das, was kommt. Leichtigkeit gewinnen. Alt sein dürfen.

Welche Erfahrungen machen Sie mit diesem Widerspruch? War diese Gelassenheit auch in der Corona-Krise spürbar? Welche Erlebnisse fallen Ihnen ein? Schreiben Sie uns Ihre Geschichte! Wir freuen uns darauf!

Gechillte Geschichten

Bild: Pixabay

Auf der Schaukel

Zu der Dame auf der Schaukel fällt mir die Geschichte von Frau S. ein.

Sie zog in eine Wohnung für betreutes Wohnen ein. Eine junge Frau Ende 80.

Eines Tages war sie sehr geknickt, weil sie im Rollstuhl sitzen musste. „Jetzt kann ich gar nicht mehr auf den Spielplatz gehen.“ sagte sie, "Ich habe mich immer so gern auf die Schaukel gesetzt und geschaukelt.“

Weil mich  ihre Freude über das Schaukeln sehr beeindruckt hat, habe ich das eines Tages auch einmal gemacht. 

Ich setzte mich auf dem Spielplatz auf die Schaukel und schaukelte, ich habe das sehr genossen. 

Als ich ihr beim nächsten Besuch erzählte, ich habe für sie geschaukelt, strahlte sie über das ganze Gesicht.  

B.R.

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Wenn ich alt werde

Wenn man davon ausgeht, dass die 2.Lebenshälfte mit 50 Jahren anfängt, bin ich mit meinen 56 Jahren noch am Anfang vom Ende – sozusagen bei der Einschulung in diesem Lebensabschnitt. Ich weiß also gerade nicht, ob ich mal das Abitur schaffe oder ob es nur für einen Hauptschulabschluss reicht. Natürlich nehme ich mir erst einmal das Abitur vor.

Ich möchte keine Schaukel auslassen, an der ich vorbeikomme. Vielleicht werde ich nicht mehr auf dem höchsten Punkt abspringen, das war beim letzten Versuch recht schmerzhaft, aber ich möchte richtig hoch schaukeln. Gerne würde ich jeden Sommer im Meer schwimmen und in viele Pfützen springen. Jeden Winter möchte ich  einen Schneemann bauen und schon zum Frühstück einen Schokoladenweihnachtsmann vernaschen.

Beim Schreiben merke ich, dass es total toll werden könnte, das Älter werden. Ich muss nicht mehr vernünftig sein oder mich vorbildlich verhalten und wer weiß, vielleicht schaffe ich ja trotzdem das Abitur. Ich freue mich darauf!

Maren H.
 

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„Höher, Helene, höher!“

Sie konnte es kaum fassen! Gestern hatte sie es auf N3 gesehen und davon gehört. Von dieser jungen Frau, die einfach irgendwo Schaukeln aufhängt. „Eine tolle Aktion,“ hatte sie gedacht. Wie gern war sie als Kind geschaukelt? Wie oft hatte sie nachmittags auf dem Spielplatz ihrer Schwester zugerufen: „Anschwung!“ Und war hochgeschaukelt. Soweit, dass die Ketten begannen zu schlackern und sie fast vom Brett geflogen wäre.

Sie hatte die Augen geschlossen und sah die Bilder wieder vor sich: den Baum, an dem die Schaukel befestigt war. Die Wiese, den Sandkasten. Kinderstimmen hörte sie, die sie anfeuerten: „Höher, Helene, höher!“

Jetzt öffnete sie die Augen wieder. Da war wirklich eine Schaukel! Unfassbar! Irgendjemand hatte sie da hingehängt. In ihren Garten, an den großen Ast, der aus dem Ahorn ragt. Vorsichtig berührte sie das Sitzbrett. Ja, das war echt. Leicht gab das Brett nach. Die Kettenglieder gaben ein vorsichtiges metallisches Klicken von sich. Mit beiden Händen hielt sie sich fest und zog sich nach einem kleinen Hüpfer auf die Schaukel. Da saß sie nun, schloss erneut die Augen, fühlte jeder Bewegung nach und war einfach nur glücklich. Sie zog ihr Smartphone aus der Tasche. Ein Selfie, das musste jetzt sein.

Alfelder Zeitung 20.06.2021: Beinahe zu einem Fehlalarm wäre es am gestrigen Sonntag am Eichenkamp gekommen. Nachbarn wollten die Feuerwehr rufen, weil sie meinten Hilferufe zu hören. Dann entdeckten sie eine jauchzende Seniorin auf einer Schaukel.

Anmerkung: Die Zeitungsmeldung ist fiktiv. Die erwähnte Schaukel-Aktion gibt es wirklich. Leider konnte ich dazu im Internet nichts mehr finden.

Bernd-Ulrich R. aus Alfeld

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Eine bemerkenswerte Gelassenheit!

Die Gelassenheit spüre ich, wie eine ältere Dame auf einer Schaukel sitzt. Im Hintergrund sind Bäume zu sehen, sommerlich wirkt es. Es erinnert mich an meine Kinderzeit, es hieß damals nicht Schaukel, sondern ‚Zinkzank‘ auf Plattdeutsch. Da ich oft alleine war, war es eine angenehme Beschäftigung. Natürlich machte es mir mit mehreren Kindern mehr Spaß mit anschubsen und rausspringen und so. – Diese Frau auf dem Foto hat tatsächlich Kopfhörer und ein Handy in der Hand – na klar‚ chillen -  jetzt erst erkannt. Mir genügt schon die Schaukel zum Chillen – entspannen. Mit geschlossenen Augen sitzt die chillende Dame, ganz gelassen. Eine bemerkenswerte Gelassenheit!

Theda U.

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In älteren Menschen liegt oft eine Ruhe

Ich bin gechillt – nein, bin ich eigentlich nie. Selten kommen die Gedanken ganz zur Ruhe. Wenn ich mir Musik anmache, so wie die Dame auf dem Bild, dann hör ich nicht nur Musik. Ich koche oder putze nebenbei, was ja ohne Musik sehr langweilig ist, vor allen Dingen das Putzen. Ich fahre Auto oder versuche wenigstens mal wieder zu zeichnen….das würde ich gerne können. Aber auch dazu benötigt man Geduld, sonst wird das nie was. Genauso wenig könnte ich stundenlang am Strand liegen oder einfach nur Löcher in die Luft starren. Das alles trägt nicht dazu bei, dass ich gechillt bin, das macht mich eher nervös. In älteren Menschen liegt oft eine Ruhe, die ich nicht habe, vielleicht nie haben werde. Mir fallen viele Großeltern ein, die mit einer Engelsgeduld die gleiche Geschichte wieder und wieder erzählen, die gleiche Frage immer wieder freundlich beantworten das gleiche Lieblingsspiel der Kinder zig mal hintereinander spielen. Kommt das noch? Werde auch ich irgendwann gechillt, einfach weil ich dann auch alt bin? So richtig glaube ich nicht daran – aber freuen würde es mich.

Nicole G. aus Sehnde

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Umwerfen kann mich heute nichts mehr

Meine Haare sind kräuselig wie eh und je. Auf jedem neu gekauften Kaschmirpullover landet nach wenigen Stunden ein Brombeermarmeladen- oder Kakaofleck. Ich vergesse die wenigen Termine, die ich habe. Ich kann immer alles finden, nur das nicht, was ich suche. Ich weine immer noch viel – vor Freude, meine Verwandten zu sehen und vor Traurigkeit, wenn sie wieder fahren, oder wenn ich zum hundertunddritten Mal Titanic schaue. Ich weine vor Dankbarkeit, weil ich ihn habe und die Hunde und die Katzen und die Bücher und die Pflanzen im Haus und vor der Tür. Ich weine auch manchmal, weil ich Schmerzen habe – die im Rücken sind seit meinen Zwanzigern überraschenderweise nicht besser geworden, manchmal kann ich den ganzen Tag nur liegen. Ich weine auch manchmal, wenn Geburtstage anstehen von Menschen, die es nicht mehr gibt – daran werde ich mich wohl nie gewöhnen. Doch ich merke, dass ich das, was mir früher Angst machte, immer noch fürchte, aber nicht auf diese nervöse Art, die mir damals Schlaf und Nerven raubte – und allen, die mich ertragen mussten. Wie ein Baum, dessen Wurzeln mit der Zeit immer tiefer in die Erde gewachsen sind, dessen Stand immer fester wurde, spüre ich den Wind und den Regen, ich leide im Frost und Schnee, doch umwerfen kann mich heute nichts mehr. Ich stehe fest mit den Zehen auf dem erdigen Boden in meinem Garten, auf den Fliesen meiner Küche, auf dem Schafsfell vor meinem Bett. Und selbst wenn ich nicht aufstehen kann, wenn ich den Tag wie als grippekrankes Kind im Bett verbringen muss, liege ich ganz fest da, nichts zieht irgendwohin, ich blättere Seite um Seite um und weiß, ich bin richtig hier, wo ich bin, und morgen werde ich wieder aufstehen können und wenn nicht, sind ja zum Glück noch genug Bücher da.

Selene Mariani