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Friedhöfe im Fluss der Zeit

Nachricht 19. Mai 2022

Fachtag „Fokus Friedhof“ zeigt neue Chancen für kirchliche Friedhöfe angesichts des Wandels der Bestattungskultur

„Auch Friedhöfe wandeln sich im Fluss der Zeit“, sagte Professor Dr. Norbert Fischer vom Institut für Empirische Kulturwissenschaft der Universität Hamburg. „Sie spiegeln die gesellschaftlichen und kulturellen Veränderungen geschichtlicher Epochen.“ Fischer sprach auf dem Fachtag „Fokus Friedhof, Kunstvoll.Spirituell.Lebensnah.“, den das Haus kirchlicher Dienste der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers jetzt in Hannover veranstaltet hat.

In seinem Vortrag „Die Zukunftsfähigkeit des Friedhofs aus Geschichte, Gegenwart und neuen Visionen heraus“ zeigte er den beständigen Wandel der Friedhofskultur seit dem Mittelalter auf. Auch derzeit erlebten wir einen starken Umbruch der Beerdigungs- und Trauerkultur, stellte er fest. „Für mehr als 50 Prozent aller Bestattungsformen ist der Friedhof nicht mehr nötig“, sagte Fischer. Die im späten 19. Jahrhundert eingeführte und anfangs noch von den Kirchen bekämpfte Feuerbestattung bezeichnete er als „wichtigste Neuerung der Bestattungskultur in der jüngsten Zeit“. Sie ermögliche eine große Kreativität und Flexibilität bei der Bestattung und der Trauerkultur. „Die Menschen wollen sich immer weniger vorschreiben lassen, wie und wo sie sich oder ihre Angehörigen bestatten lassen“, sagte der Kulturwissenschaftler.

Kulturelle Bedeutung von Friedhöfen erhalten und ausbauen

Die zunehmende Individualisierung und Ausdifferenzierung der Gesellschaft in neue soziale Gemeinschaften zeige sich auch in der Friedhofskultur. So gebe es immer weniger abgegrenzte Einzel- und Familiengräber. Stattdessen entwickelten sich neue Formen wie die Bestattung in einem „Garten der Frauen“, in einer Gemeinschaftsanlage für Fußballfans oder in eigenen Bereichen für eine „Tier-Mensch“-Bestattung. Auch eine naturnahe Bestattung wie in Friedwäldern, auf Wildblumenwiesen oder im Meer spiele eine immer größere Rolle. Eine besondere Bestattungs- und Trauerkultur setze sich auch für verstorbene Kinder oder Ungeborene durch, beispielsweise in Form eines bunt gestalteten Erinnerungskarussells.

Für die Friedhofsbetreiber, häufig die Kirchengemeinden, stelle sich angesichts eines zunehmenden Flächenüberhangs immer drängender die Frage der Wirtschaftlichkeit. Der Professor sieht eine Lösung in der „Diversifizierung“, es gelte über neue Nutzungen des Friedhofs nachzudenken. So könnten Teile des Friedhofs vermietet werden, andere Teile könnten als Museumsbereiche, ökologische Flächen oder als Orte für Kulturveranstaltungen dienen. Zunehmend seien Friedhöfe auch als Begegnungsorte, beispielsweise mit einem Café-Bereich gefragt. „Über ihre Funktion als Beerdigungsort hinaus haben Friedhöfe eine bleibende kulturelle Bedeutung“, sagte Fischer und wies darauf hin, dass die „Friedhofskultur“ 2020 als immaterielles UNESCO-Kulturerbe anerkannt worden sei.  

„Ungebrochene Sehnsucht nach Trauerarbeit“

Wie Friedhöfe zu Orten für Kunst und Kultur werden können, zeigten mehrere Workshops des Fachtages auf. So lädt die Stadt Osnabrück auf zwei historischen Friedhöfen zu Kulturveranstaltungen unter dem Motto „Neues Leben zwischen alten Gräbern“ ein. Dabei werde mit örtlichen Kulturinitiativen und Künstlern kooperiert, berichtete Eva Güse von der Osnabrücker Friedhofsverwaltung. Die Angebote reichten von besonderen Kunstausstellungen über ornithologische Spaziergänge bis hin zu Yoga und Meditation sowie musikalischen Veranstaltungen. In Wennigsen organisiert die lokale Kirchengemeinde „Abends Kultur in/an der Friedhofskapelle“, die saniert wurde und dadurch zu einem attraktiven Veranstaltungsort geworden ist. Das Mausoleum des Eystruper Friedhofs dient als Ort der Stille, aber auch als lebendiger Kunstraum. So realisierten ein Künstler und eine Künstlerin dort ungewöhnliche Kunstaktionen mit Wachsmalerei oder Holzskulpturen. Für welche Kunst- oder Kulturveranstaltung sich ein lokaler Friedhof eigne, sei je nach den Gegebenheiten vor Ort verschieden, sagte Güse. „Überlegen Sie immer, was den ‚Genius Loci‘ ihres Ortes ausmacht“, ermutigte sie die Workshop-Teilnehmenden.

Ein Beispiel für den Umgang mit den häufig auf Friedhöfen vorhandenen Kriegsdenkmälern aus dem Ersten Weltkrieg stellte die hannoversche St.-Nicolai-Kirche vor. Gegenüber einem Soldatenrelief platzierte sie die mahnende Friedensstele eines zeitgenössischen Künstlers und bezog auch Schülerinnen und Schüler in das Weltkriegs-Erinnerungsprojekt mit ein. Den Wandel der Friedhofskultur und besondere Beispiele künstlerischer Grabgestaltung konnten die Teilnehmenden des Fachtages auch bei zwei Exkursionen zu dem Stöckener und dem Herrenhäuser Friedhof erleben. Grabmäler zeigten dabei bürgerliche Standesrepräsentation oder individuell gestaltete Symbole der Hoffnung auf Ewigkeit.

Wie sehr der Wandel der Trauerkultur auch die Gestaltung der Trauerfeiern beeinflusst, war Thema eines Workshops mit dem hannoverschen Popkantor Til von Dombois. Neben seiner musikalischen Begleitung des gesamten Fachtages, auch durch seine Band, präsentierte er den Workshop-Teilnehmenden neue, teilweise selbst komponierte Trauer- und Erinnerungslieder. Bei aller Individualisierung, die sich auch in der Gestaltung von Trauerfeiern zeige, verbinde die Menschen jedoch eine „ungebrochene Sehnsucht nach Trauerarbeit“ stellte ein Workshop-Teilnehmer fest. Für Dr. Matthias Surall, Leiter des Arbeitsfeldes Kunst und Kultur im Haus kirchlicher Dienste und Initiator des Fachtages, entstehen dadurch neue Chancen für die Kirche. „Beim Thema Friedhofskultur sind wir als Kirche mittendrin in Themen, die wir ohnehin  haben“, betonte er. „Themen wie Spiritualität, Trauerbewältigung, aber auch Erotik und Tod.“