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„Bitte schert uns nicht über einen Kamm“

Nachricht 12. Mai 2022
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Julia Krohmer ist Pastorin in der Evangelisch-lutherischen Kirchengemeinde Munzel-Landringhausen.

Julia Krohmer ist in Russland geboren und als Kind nach Deutschland gezogen. Seit dem Angriff auf die Ukraine hat die Pastorin aus Munzel-Landringhausen vermehrten Rassismus erlebt.

Frau Krohmer, bei Instagram haben Sie neulich geschrieben: „Ich schäme mich für meine Landsmenschen, die pro Putin sind. Ich weine mit denen, die angefeindet werden.“ Was erleben Sie, das Sie zu solch einer Veröffentlichung veranlasst?

Krohmer: „Ich war immer stolz, die zu sein, die ich bin. In Russland geboren zu sein, war kein Problem. Russlanddeutsche zu sein, ist meine Identität. Mit Beginn des Kriegs habe ich aber eine Zerrissenheit in mir gespürt, man kann es nicht anders sagen. Meine Familie hat noch viele Kontakte nach Russland, mein Opa ist in der damaligen UDSSR auf dem heutigen Gebiet der Ukraine geboren – und zu sehen, dass zwei Bruderstaaten plötzlich im Krieg liegen, ist schrecklich. Allen aus meinem russischstämmigen Freundeskreis geht es innerlich so – und von außen kamen bald Anfeindungen.“

Was für Anfeindungen? 
Krohmer: „Zum Beispiel rassistische Kommentare wie: „Du bist doch Russin, was macht ihr da in der Ukraine? Schämst du dich nicht?“ und Härteres - sowohl persönlich als auch in den sozialen Netzwerken. Und ich dachte: ,Nein, stop, ich gehöre da nicht zu.‘ Es ist ekelig, in diese Ecke gedrängt zu werden. Auch meine Konfis berichten mir, wie Kinder mit russischen oder russlanddeutschen Eltern auf dem Schulhof fertiggemacht, verbal angegangen und ausgegrenzt wurden. Das ist nicht nur hier so – mich haben auch Leute aus anderen Regionen angerufen, die dieselben Sorgen haben, die diesen Krieg nicht wollen, kein Z auf dem Auto haben und nicht bei Autokorsos mitmachen. Aber es wird ihnen unterstellt pro Putin zu sein, nur weil sie russisch klingen.“

Was geben Sie ihnen mit?
Krohmer: „Erstmal habe ich mich gefreut, dass sie sich gemeldet haben, weil es wichtig ist, dass wir uns austauschen und der Sprachlosigkeit und Ohnmacht Raum geben. Es gehen da ja auch große Risse durch die Familien – die einen sehen in Putin dank der gesteuerten Propaganda einen guten Anführer, die anderen nicht. Ihnen zu zeigen, dass sie Rückhalt haben, ist der erste Schritt. Aber dann bin ich auch ratlos, was wir wirklich tun können. Mit Verwandten und Freunden in Russland kann man gar nicht frei sprechen, weil die Angst, dass der Kreml mitliest oder -hört, so groß ist. Es ist schwierig, einen ehrlichen Kontakt zu halten. Beten können wir und das tun wir, aber sonst? Diese Frage bleibt. Ich möchte aber auch Mut machen zu sagen: Ich bin Russlanddeutsche und ich muss mich nicht verstecken, ich bin gegen Putin und den Krieg.“ 

Hat Sie überrascht, dass der Rassismus zunimmt?
Krohmer: „Es erschreckt mich sehr, dass Kinder ohne Grund aufeinander losgehen, ja. Denn das zeigt ja, wie zu Hause gesprochen wird. Wir wissen alle, dass es noch viel Rassismus gibt, aber der zeigt sich jetzt nochmal deutlicher. Meine Bitte ist: Bitte schert uns nicht über einen Kamm und nehmt unsere Zerrissenheit ernst!“

Haben Sie Hoffnung auf Besserung?
Krohmer: „Ja, denn ohne Hoffnung wäre es nicht auszuhalten. Allerdings befürchte ich, dass sich so schnell nicht viel ändern wird. Was Putin da seit über 20 Jahren macht, das wird er nicht morgen einfach aufgeben. Ich habe Sorge, weil Putin und die Situation in Russland so unberechenbar sind.“

Interview: Christine Warnecke/Evangelische Medienarbeit

Kommentar: „Nur, weil jemand russisch spricht, ist er oder sie nicht automatisch ein Unterstützer Putins und des Krieges“

„Einwander*innen aus der ehemaligen Sowjetunion und ihre Nachfahren bilden mit rund 3,5 Millionen Menschen die größte Einwanderergruppe in Deutschland. In Niedersachsen leben überdurchschnittlich viele postsowjetische Migrant*innen, Schwerpunktregionen sind Cloppenburg, Osnabrück, Gifhorn/Wolfsburg, Hannover, Vechta und das Emsland.

Deshalb gibt es auch in unseren Kirchengemeinden eine nennenswerte Zahl von Mitgliedern, die selbst bzw. deren Eltern als russlanddeutsche Aussiedler nach Niedersachsen gekommen sind. Viele dieser Menschen bringen sich bereits in die vielfältigen kirchlichen Aktivitäten für Geflüchtete aus der Ukraine ein. Dort sind sie mit ihrer Sprachkompetenz und mit ihrer eigenen Erfahrung, wie schwer es ist, sich auf das neue Leben in Deutschland einzustellen, besonders wertvoll.

Allein diese Tatsache zeigt, wie wichtig die Differenzierung ist: Nur, weil jemand russisch spricht, ist er oder sie nicht automatisch ein Unterstützer Putins und des Krieges. Die Konflikte innerhalb der verschiedenen postsowjetischen Gemeinschaften in Deutschland laufen nicht entlang von ethnischen oder sprachlichen Linien, sondern sie verlaufen quer durch diese Gruppen und sogar quer durch Familien.

Wo Diskriminierung aufgrund von Sprache und Herkunft erfolgt, müssen wir uns vor diese Menschen stellen und sie unterstützen.“

Lars-Tortsen Nolte ist Referent für Migration und Integration im Haus kirchlicher Dienste