Stephanie von Lingen ist seit fast zehn Jahren Superintendentin – wie weit ist die Kirche heute in Sachen Gleichberechtigung?
Frau von Lingen, Sie selbst sind seit fast zehn Jahren Superintendentin im Kirchenkreis Leine-Solling. Was hat sich in dieser Zeit in Sachen Gleichberechtigung verändert?
Von Lingen: Damals, 2015, waren wir nur zehn Superintendentinnen, soweit ich mich erinnere. Heute sind wir fast doppelt so viele in unserer Hannoverschen Landeskirche. Ebenso sind inzwischen unter den Vorsitzenden unserer Kirchenkreissynoden viel mehr Frauen als vor zehn Jahren und wir haben vier Regionalbischöfinnen neben zwei Regionalbischöfen. Gleiches beobachte ich um mich herum in kommunalen Leitungsämtern, aber auch an der Spitze von Wirtschaftsunternehmen und das ist gut so. Inzwischen nehmen junge Väter viel selbstverständlicher Elternzeit. Und der Gender Pay Gap ist in den letzten Jahren um einiges kleiner geworden, stellt sich in Ostdeutschland aber besser da als in Westdeutschland. In unseren kirchlichen Berufen gibt es diesen Gender Pay Gap dankenswerterweise gar nicht.
Was sind ganz typische Herausforderungen für Frauen in Spitzenpositionen?
Von Lingen: Noch immer scheint es mir so, dass Frauen in Spitzenpositionen mehr und qualifiziertere Leistungen erbringen müssen, um in ihrer Position anerkannt zu werden, insbesondere in der öffentlichen Wahrnehmung, aber auch in der Gremienarbeit. Nach wie vor ist die Frage nach der Sorgearbeit für die Familie, für Kinder wie für Eltern, eine sehr private Frage, die in der Familie gelöst werden muss – nicht immer, aber oft zu Lasten der Frauen. Dieses wird umso komplexer, wenn Unterstützung durch Kitas oder Pflegemöglichkeiten ausfallen. Das betrifft natürlich alle berufstätigen Frauen, nicht nur diejenigen in Spitzenpositionen. Tatsächlich gibt es wenige Möglichkeiten, Spitzenpositionen mit jemandem zu teilen. Daher bin ich sehr dankbar, dass meinem Mann und mir das ermöglicht wurde.
Welche Rollenbilder werden gern auf Frauen in Führung projiziert?
Von Lingen: Führen Frauen empathisch, werden sie gern als mütterlich eingeordnet. Führen sie durchsetzungsstark, gelten sie schnell als dominant. Frauen in Führungspositionen wird insgesamt mehr Besonnenheit und Fürsorglichkeit zugeschrieben – ich persönlich glaube nicht, dass Frauen grundsätzlich anders führen als Männer.
Welche Ziele verfolgen Frauen auf dem Weg nach oben und was macht die Frauen so stark?
Von Lingen: Mir persönlich ist wichtig, dass sich der Führungsstil in Leitungspositionen grundsätzlich den heutigen Bedürfnissen anpasst. Dazu gehören für mich Partizipation, Empathie, Kooperation und Anpassung des Arbeitsplatzes an die Bedürfnisse der Mitarbeitenden – soweit möglich.
Frauen gewinnen Stärke daraus, dass sie gewohnt sind, über längere Zeit viel Energie in eine Sache investieren zu müssen und nicht die Geduld zu verlieren. Unterschiedlichste Erlebnisse auf dem Weg in eine Führungsposition, auch Rückschläge, machen Frauen in der Regel flexibler und resilienter. Frauen sind da besonders stark, wo sie untereinander erfolgreich netzwerken.
Wo ist es für Frauen Ihrer Meinung nach leichter, Führungspositionen zu erklimmen: In der Wirtschaft oder in der Kirche?
Von Lingen: Im Moment sieht es so aus, als sei es leichter in der Kirche. Möglicherweise hat das auch damit zu tun, dass unter den theologischen Nachwuchskräften die Anzahl der Frauen zurzeit zunimmt. Grundsätzlich würde ich es übrigens begrüßen, wenn Führungspositionen auch in der Kirche durch qualifizierte Bewerbungsverfahren statt durch groß angelegte Wahlverfahren besetzt würden.
Was tut die Evangelische Kirche, um den Anteil von Frauen in Führungspositionen zu steigern? Was muss sich ändern?
Von Lingen: In unserer Landeskirche erlebe ich, dass gezielt Frauen ermutigt und fortgebildet werden, um sich für Führungspositionen zu qualifizieren. Es stehen Mentorate zur Verfügung, aber auch Coachingangebote können in Anspruch genommen werden. Ob es tatsächlich im Moment einer Quote bedarf, glaube ich angesichts der Zahlen aktuell nicht. Tatsächlich gilt es aber im Blick zu behalten, ob die Frauenförderung inzwischen Teil einer gezielten und organisationsimmanenten Personalentwicklung ist. Führungspositionen in unserer Landeskirche müssen von Aufgaben entschlackt werden, damit sie noch Familienleben zulassen – dies gilt aber für alle Geschlechter in Leitungsämtern.
Was würden Sie jungen Frauen raten, wenn sie eine leitende Position übernehmen möchten?
Von Lingen: Frauen dürfen sich nicht scheuen, früh Verantwortung für bestimmte Aufgaben und Arbeitsbereiche zu übernehmen. Wenn Sie Interesse an Leitung und Gestaltung haben, sollten sie sich regelmäßig in dieser Richtung fortbilden und sich mit anderen Frauen mit ähnlichen Interessen vernetzen und eben auch eine Bewerbung nicht scheuen. Frauen und alle interessierten Personen an Leitungspositionen mit Familie sollten frühzeitig mit der Familie besprechen, wer das Netz bildet und mithilft, wenn die Kita zu ist, das Kind krank wird oder größeren Unterstützungsbedarf hat, die Eltern pflegebedürftig werden oder ähnliches.
Wenn Sie eine Sache für mehr Gleichberechtigung sofort ändern könnten, welche wäre das?
Von Lingen: Ich würde mich für flexiblere Arbeitszeitmodelle und Teamworking einsetzen.
Ergänzen Sie bitte mal: Frauen im Jahr 2024...
Von Lingen: ...sollten sich unbedingt dafür einsetzen, dass bislang für Gleichberechtigung Erreichtes nicht unauffällig wieder verschwindet und sollten sich weiterhin gut vernetzen – mit Gleichgesinnten – egal welchen Geschlechts.
Evangelische Medienarbeit