Henriette beim DORLE

rundertisch

Ganz bewusst hatte man vereinbart, nach dem ersten Abend in der alten Schule erst einmal zwei Monate ins Land gehen zu lassen. Ein Dorf braucht eben Zeit, um über neue Ideen reden zu können. Aber jetzt war es so weit und es fand die erste Zusammenkunft des DORLE statt. Das Kind musste ja einen Namen haben und „Runder Tisch Dorfleben“ war einfach zu lang. DORLE klang gut und sympathisch. Etwas aufgeregt war Henriette schon, als sie sich auf den Weg zur alten Schule machte.

Heute sollte auch noch ein Mensch aus Hannover dazu kommen, um über die Idee eines vernetzten Dorfes zu berichten. ‚Hoffentlich verstehe ich das, wovon die reden‘, dachte sie im Stillen. An der Tür stand der Bürgermeister und gab jedem die Hand. „Ah, Henriette, gut, dass du dabei bist“, begrüßte er sie, „wir sitzen heute an Tischen. Schau bitte selbst, wo du gerne sitzen möchtest“. Henriette blickte sich um. Die Meisten kannte sie ganz gut. Rotes Kreuz, Feuerwehr, Sportverein, Siedlergemeinschaft, Landfrauen – wohl alle Gruppen und Vereine des Dorfes hatten jemanden entsandt. Auch die Kirchengemeinde war mit der Pastorin und der Kirchenvorstandsvorsitzenden gut vertreten.

Dann erkannte Henriette auch einige, die sie nicht mit einem Verein in Verbindung bringen konnte. Zum Beispiel Herbert, der im Sommer immer ehrenamtlich das Gras an den Plätzen mäht, für die sich keiner sonst zuständig fühlt. Außerdem ist er Besitzer von „Herbies Hölle“, einem Grill, mit dem er auf jedem Vereinsfest zu finden ist. An einem Tisch sah Henriette eine Frau sitzen, die seit zwei Jahren in ihrer Straße wohnte und mit der sie sich etwas angefreundet hatte. Sie setzte sich zu ihr. „Inge, was machst du hier?“ fragte sie. „Ach, Henriette, ich bin doch die Diakoniebeauftragte unserer Kirchengemeinde. Da interessiert mich natürlich alles, was mit dem Leben in unserem Dorf zu tun hat“, antwortete Inge.

Ihr Gespräch wurde von einem Räuspern des Bürgermeisters unterbrochen. „Also, erst einmal herzlich willkommen! Schön, dass ihr euch alle auf den Weg gemacht habt. Heute soll es also losgehen mit unserem Projekt. Dazu haben wir einen Gast aus Hannover, der uns dazu etwas erzählen wird“.

Die Idee der "Sorgenden Gemeinschaft"

Der Gast aus Hannover stellte sich als ein Pastor vor, der im Haus kirchlicher Dienste an dem Projekt „Vernetztes Dorf“ arbeitet. Er erzählte davon, wie das früher in den Dörfern war, dass man da wirklich aufeinander angewiesen war und sich gegenseitig geholfen hat. Dass wir in einer Zeit leben, in der wieder bewusst wird, wie wichtig gute Nachbarschaft ist. Bundesweit würden sich vielerorts Initiativen gründen, die ihr Dorf zu einer „sorgenden Gemeinschaft“ hin entwickeln wollen.

Wobei eine „sorgende Gemeinschaft“ das gelingende Zusammenspiel von Bürgerinnen und Bürgern, Staat, Organisationen der Zivilgesellschaft und professionellen Dienstleistern in der Bewältigung der mit der Daseinsvorsorge  verbundenen Aufgaben sei.  Und bei der Daseinsvorsorge könne die Vernetzung über das Internet eine große Hilfe sein. Aber die beste Vernetzung nutze gar nichts, wenn nicht eine breite Bereitschaft vorhanden sei, miteinander und füreinander zu leben.

Da war Henriette erst mal erleichtert. Die Technik sollte also gar nicht im Mittelpunkt stehen und für gute Nachbarschaft hatte sie sich Zeitlebens immer eingesetzt. Ihre Gedanken gingen zurück in die Zeit, als ihr Mann noch lebte und sie  zusammen zu den Festen und Feiern im Dorf gegangen sind.

Bedenken und Zustimmung

„…deswegen ist die erste Frage, die Sie hier miteinander klären müssen, ob es in Ihrem Dorf eine breite Bereitschaft gibt, das Zusammenleben in dieser Weise zu gestalten“, die Stimme des Pastors holte Henriette aus ihren Gedanken wieder in die Gegenwart zurück. „Sie haben in den letzten zwei Monaten in Ihren Vereinen und Gruppen doch bestimmt über dieses Vorhaben gesprochen. Was haben Sie dabei als Stimmung wahrgenommen?

An Henriettes Nachbartisch stand der Vorsitzende vom Sportverein auf. „Ja, also, wir haben bei der letzten Vorstandssitzung darüber gesprochen. Die Sache ist nicht einfach. Natürlich wollen die Meisten sich engagieren. Aber es ist doch so, dass viele noch im Beruf sind. Morgens müssen sie früh aufbrechen zur Arbeit und wenn sie abends zurückkommen, sind sie meistens ziemlich kaputt. Da bleibt nicht viel Energie für andere“.

Ich denke, das ist eine wichtige Beobachtung“, sagte der Pastor und schob eine Moderationstafel in die Raummitte. Mit einer Nadel heftete er ein Blatt an die Tafel. Darauf stand „Bedenken“. „Wir kommen nur zu einem guten Ergebnis, wenn wir offen über alles reden. Deswegen sollten wir auch die Bedenken sehr ernst nehmen. Wer kann das mal kurz notieren? Karten und Stifte habe ich mitgebracht“. „Kann ich machen“, meldete sich die Pastorin und schrieb „Berufstätigen fehlt Zeit und Kraft“ auf eine rote Karte.

Bei uns sieht das etwas anders aus“, meldete sich die Frau von der Siedlergemeinschaft zu Wort, „bei uns sind schon viele im Ruhestand und haben auch entsprechend viel Zeit. Und fahren können die meisten auch noch“. Der Pastor heftete noch ein Blatt „Zustimmung“ an die Moderationstafel und es kam eine grüne Karte „Rentner haben Zeit“ hinzu.

Nach und nach füllte sich die Wand mit roten und grünen Karten.
Auch Henriette steuerte eine rote Karte bei: „Ich kenne mich nicht mit Computern aus!“ An ihrem Tisch saßen Jonas und Svea von der Evangelischen Jugend der Kirchengemeinde. Als Henriette ihren Einwand einbrachte, schauten sich Jonas und Svea kurz an und meldeten sich zu Wort. „In unserem Mitarbeiterkreis kennen wir uns sehr gut mit Computern und Internet aus. Wir werden mal fragen, ob nicht einige von uns denen zur Seite stehen können, die sich noch nicht so gut auskennen“. Und schon war wieder eine grüne Karte an der Moderationstafel.

Am Ende gab es mehr grüne als rote Karten und es war Zeit für ein Meinungsbild. Die überwiegende Mehrheit der Anwesenden stimmte dafür, es mit dem Projekt „Vernetztes Dorf“ zu versuchen.

Die vier Fragen des Zusammenlebens

Gut“, sagte der Pastor, „dann wollen wir uns den zweiten Teil des Abends mit der Frage beschäftigen, wie gute Nachbarschaft, wie sorgende Gemeinschaft entstehen kann. Entsprechend der Anzahl unserer Tische gibt es vier Themenbereiche, über die wir uns jetzt austauschen können. Drehen Sie bitte einmal das Plakat um, das auf Ihrem Tisch liegt. Auf der Rückseite ist für jeden Tisch eine Frage notiert. Dies sind die vier Fragen des Zusammenlebens:
1.    Haben wie ein Wir-Bewusstsein und gleichzeitig einen Ich-Respekt?
2.    Kann ich es ertragen, dass jemand für mich sorgt und habe ich die Verbindlichkeit, um für andere zu sorgen?
3.    Kann jeder Nähe und Distanz frei bestimmen, ohne dass jemand sich bedrängt oder zurückgesetzt fühlt?
4.    Können wir Konflikte zulassen und sie gleichzeitig in so weit beherrschen, dass sie uns voran bringen?


Na, das ist ja mal ein elaborierter Code“, meinte daraufhin die Pastorin, „Wir-Gefühl und Ich-Respekt - können Sie uns das auch noch mal in vernünftigem Deutsch sagen?“ „Gerne doch“, lachte der Pastor, „es muss sich ja immer nach was anhören. Aber sie haben ganz Recht – das kann man auch einfacher sagen. Also in der ersten Frage geht es darum, dass es einerseits schon wichtig ist, ein Wir – Gefühl als Dorfgemeinschaft zu entwickeln. Andererseits ist die individuelle Freiheit bei uns ein hohes Gut. Man möchte immer selber bestimmen können, wo, was und wie viel man sich in eine Sache einbringt. Das kann zum Problem werden, wenn einige viel machen wollen, andere aber eher weniger. Man muss es – kurz gesagt – aushalten können, dass andere ganz einfach auch anders sind. Das meine ich mit ‚Ich-Respekt‘“.

Das kann man aber auch noch mal auf eine andere Ebene heben“, warf der Bürgermeister ein, „Ich meine, es muss diesen Ich-Respekt auch vor den Interessen der Gruppen und Vereine geben, die hier mitmachen wollen. Das ist immer ein schwieriges Feld, wenn man etwas zusammen unternehmen will. Jeder Verein möchte gut in der Öffentlichkeit da stehen und das bringt automatisch Konkurrenz. Ich-Respekt bedeutet für mich in diesem Fall, dass man darüber offen reden kann und einen vernünftigen Ausgleich findet“.

Ja, genau“, nahm der Pastor wieder den Faden auf, „das ist noch mal ein wichtiger Hinweis. Es klappt nur, wenn alle achtsam miteinander umgehen. Genau darum drehen sich auch die anderen drei Fragen. Die zweite Frage greift das Problem auf, dass es einem meistens leichter fällt, etwas für andere zu tun, als selber Hilfe anzunehmen. Die dritte Frage beleuchtet, dass man sich schon engagieren möchte, aber nicht immer und dauernd. Man hat Grenzen. Darf man die benennen, ohne dass es darüber zu Verstimmungen kommt? Und wenn es zu Verstimmungen kommt, dann ist die vierte Frage dran. Es ist immer gefährlich, Ärger unter den Teppich zu kehren. Konflikte sind eigentlich gut, weil sie uns anzeigen, dass irgendetwas nicht stimmt. Wenn man das rechtzeitig erkennt und bearbeitet, dann kann das von großem Nutzen sein“.

An den vier Tischen gab es nun lebhafte Gespräche zu der Frage, die auf dem Plakat notiert war. Nach und nach füllten sich die Plakate mit Beobachtungen, Fragen und Anregungen, die an den Tischen diskutiert worden sind. Anfängliche Skepsis war einer gewissen Begeisterung gewichen. Man konnte spüren, dass es den meisten Spaß machte, Ideen zu entwickeln. Der Pastor aus Hannover sagte zu, die Beiträge auf den Plakaten in einem Protokoll zusammenzufassen und zu verschicken.

Zum Schluss zückten alle ihre Kalender und es wurden Termine für regelmäßige Treffen des DORLE vereinbart.

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Das vernetzte Dorf - kurz und bündig erklärt