
Die fünf Säulen der Identität
In Krisenzeiten werden Menschen schnell verunsichert. Durch die derzeitige Situation der Pandemie, ist dieses gerade der Fall. Die Einschränkungen durch die Corona-Krise werfen uns innerlich auf uns selbst zurück. Die Belastungssituationen bringen das seelische Gleichgewicht vieler aus dem Lot und schwächen das Selbstwertgefühl. Der deutsche Psychologe Hilarion Petzhold (geb. 1944 in Kirchen/Sieg) hat in den 90er Jahren ein Modell „Die fünf Säulen der Identität“ entwickelt, das uns helfen kann, die Dramatik der jetzigen Verunsicherung der einzelnen zu verstehen (Petzhold H.G., Integrative Therapie. Modelle, Theorien und Methoden für eine schulübergreifende Psychotherapie 1992, Band 2: Klinische Theorie. Paderborn).
Folgende fünf Säulen beschreibt er:
1. Leiblichkeit (Körper und Gesundheit)
Auf unsere Identität wirkt alles, was mit dem Körper, unserem Leib zu tun hat; d.h. mit seiner Gesundheit, seinem Kranksein, seiner Leistungsfähigkeit, seinem Aussehen.
Auf unsere Leiblichkeit wirkt sich die Art und Weise aus, wie wir mit unserem Körper umgehen, wie wir uns kleiden, ob wir uns mögen oder uns „in unserer Haut wohlfühlen“ oder eben auch unwohl fühlen.
Es wirkt sich aus, wie andere unsere Leiblichkeit wahrnehmen, d.h. schön finden oder nicht, ob sie uns als gesund, vital oder als krank und gebrechlich erleben.
2. Soziales Netzwerk (Kontakte und Beziehungen)
Unsere Persönlichkeit und Identität werden weiterhin bestimmt von unseren sozialen Beziehungen, d.h. von Menschen, die uns wichtig sind, mit denen wir zusammen leben und arbeiten; Menschen, auf die wir uns verlassen können, Menschen für die auch wir da sein können und denen wir etwas bedeuten.
Zu unserem sozialen Netzwerk gehören auch die Menschen, die uns nicht wohlgesonnen sind oder mit denen wir Schwierigkeiten im Kontakt haben. Auch Erfahrungen mit einem unsicheren sozialen Netzwerk, welches sich u.a. in Empfindungen von Einsamkeit ausdrücken kann, sind Teil unserer Seele.
3. Arbeit, Leistung und Freizeit
Unter dieser Überschrift stehen: Leistungen, die wir in der Arbeit, der Freiwilligentätigkeit oder im Privaten erbringen; mit denen wir einerseits Arbeitszufriedenheit, Erfolgserlebnisse und Freude an den eigenen Kompetenzen verbinden, andererseits aber auch Erfahrungen mit entfremdeter Arbeit, Arbeitsbelastung, überfordernden Ansprüchen sowie erfüllende oder fehlende Leistungsansprüche.
Überdies werden wir in unseren beruflichen Rollen und Leistungen von unseren Mitmenschen gesehen, was sowohl mit Wertschätzung als auch mit negativer Beurteilung einhergehen kann.
In unserer Freizeit erleben wir Sinnerfüllung durch positive von uns gewählte Beschäftigungen oder Begegnungen neben Leere und Langeweile in Zeiten der Suche oder Orientierung.
4. Materielle Sicherheit
Der vierte Bereich hat mit unseren materiellen Sicherheiten zu tun, d.h. unserem Einkommen und den Dingen, die wir besitzen, wie z.B. eine Mietwohnung oder ein Haus.
Aber auch der ökologische Raum prägt unser Identitätsgefühl, denn ihm fühlen wir uns zugehörig oder aber wir erleben uns als Fremde. Fehlende Heimatgefühle und mangelnde materielle Sicherheiten belasten unser Leben schwer.
5. Werte und Ideale
Der fünfte Bereich der unsere Identität prägt, sind unsere Werte: das, was wir für richtig halten, wovon wir überzeugt sind, wofür wir eintreten und von dem wir glauben, dass es auch für andere Menschen wichtig sei.
Dieses können religiöse oder politische Überzeugungen sein, unsere persönliche Lebensphilosophie oder bestimmte Grundprinzipien, an denen wir uns ausrichten und die wir mit anderen Menschen teilen. Erleben wir uns in diesem Bereich unsicher und auf der Suche, wirkt sich dieses erheblich auf unsere Lebensentscheidungen und unser Selbsterleben aus.
Sind alle fünf Lebensbereiche in gesunder Balance und geben Sicherheit, fühlt der Mensch sich relativ ungefährdet und psychisch stabil. Wenn aber schon eine Säule instabil wird, gerät die Wesenseinheit, das „Lebenshaus“ in Schieflage und der Mensch fühlt sich stark verunsichert. Die Säule ‚Körper und Gesundheit‘ kann z.B. durch eine Krankheit, einen Unfall oder durch ein angeschlagenes Selbstwertgefühl stark angegriffen sein. Bei Trennung, Umzug oder einen Todesfall kann die Säule ‚Soziale Netzwerke‘ instabil werden. Der Verlust des Arbeitsplatzes oder der von Hobbies oder anderen Freizeitaktivitäten können die Säule ‚Arbeit, Leistung, Freizeit‘ ins Wanken bringen. Mangelnde Rentenversorgung, Schulden und längere Arbeitslosigkeit können die ‚Materielle Sicherheit‘ gefährden. Auferlegte Zwänge, Streit und Konflikte verändern Lebenshaltungen und Wertvorstellungen und höhlen das Fundament der fünften Säule ‚Werte und Ideale‘ aus.
In unserer jetzigen Situation geraten bei vielen Menschen einzelne oder mehrere Säulen aus der Balance. Das macht deutlich, in welcher Krise sich manche befinden. Die Auflage, keine Sportstätten aufzusuchen, soziale Kontakte weitestgehend zu meiden, die Schließung von Geschäften, das Arbeiten im Homeoffice oder die Formen von Kurzarbeit verschärfen die Situation drastisch. Die Wertvorstellungen, die wir bis vor kurzem vielleicht noch hatten, geraten ins Wanken. Angst führt schnell zu Schuldzuweisungen. Insgesamt liegen die Nerven blank. Nicht nur die häusliche Nähe aller Familienangehörigen und Nachbarn erhöht das Konfliktpotenzial immens, sondern auch dass allen Menschen Auflagen erteilt werden, die die Freiheit drastisch einschränken und die Abhängigkeit verstärken. Das alles beschäftigt uns und natürlich auch die Menschen, mit denen wir in Kontakt treten, wenn nicht unbedingt direkt, so doch indirekt.
Unsere Frage ist darum: Wie können wir in der jetzigen Situation Menschen im Telefonat unterstützen, die eigenen inneren Stärken wieder zu entdecken oder neu zu phantasieren, damit die Seele Ankerpunkte für die Hoffnung entdeckt? Wie können wir das Vertrauen in die eigene Selbstwirksamkeit und die Resilienz stärken?
Hilfreiche Fragen im Gespräch
Ein Telefonat in einer Krisensituation kann zur Herausforderung für den Anrufer oder die Anruferin werden, weil er oder sie das Gegenüber nicht sehen kann, sondern allein mit dem Ohr wahrnehmen muss, wie es um den anderen steht. Das Wichtigste ist hier natürlich zuhören ohne Wertungen vorzunehmen oder Ratschläge zu geben. Manchmal dreht sich ein Gespräch im Kreis, weil die Situation der Gegenwart nicht gut zu ertragen ist und so führt sie gelegentlich zu Wiederholungen ein und desselben, und zum Klagen und Jammern auf Seiten der Angerufenen. Das kann den oder die Anruferin hilflos machen. Fragen wie: Wie können Sie das aushalten? Wer unterstützt Sie im Moment? Wer meldet sich? Wen könnten Sie anrufen? bringen die Angerufenen manchmal auf neue Ideen. Aber nicht immer gelingt es, dass das Gegenüber sich darauf einlassen kann.
Verlässt der Anrufende nun die Gegenwart im Gespräch und lenkt das Augenmerk ganz bewusst auf positive Erlebnisse in der Vergangenheit oder auf die Zukunft kann die Seele des Angerufenen sich eventuell anders verankern. Schöne Erlebnisse neu hervorrufen oder Pläne für die Zukunft schon jetzt ein Stück erfahrbar machen. Hier ein paar Vorschläge, wie die „ressourcenorientierten Fragen“ dann klingen könnten:
1. Leiblichkeit, Körper und Gesundheit
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Erzählen Sie doch einmal, wie Sie es früher gemacht haben, dass Sie in Bewegung geblieben sind!
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Wie muss ich mir das genau vorstellen?
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Wenn wir diese Krise jetzt nicht hätten, was würden Sie dann tun?
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Können Sie sich vorstellen das schon jetzt für die Zeit nach „Corona“ einzuplanen? Was genau werden Sie dann tun?
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Was fehlt ihnen jetzt? Was können Sie trotzdem tun? Wie können Sie für etwas Entspannung sorgen?
2. Soziales Netzwerk (Kontakte und Beziehungen) -
Wer gehört zu Ihrem persönlichen Netzwerk? Wie können Sie in Kontakt bleiben? Was könnte gerade jetzt Gutes passieren?
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Mit wem haben Sie gerne etwas unternommen? Erzählen Sie doch mal, was haben Sie gemacht? Was war das schönste gemeinsame Erlebnis? Gab es da noch andere nette Erfahrungen?
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Mit wem werden Sie als erstes etwas unternehmen, wenn die Corona-Krise vorbei ist? Was wird das sein? Wie stellen Sie sich das genau vor? Haben Sie Bilder vor dem inneren Auge?
3. Arbeit, Leistung und Freizeit -
Wie muss ich mir Ihre Arbeit/Tätigkeit vorstellen? Wofür genau waren Sie zuständig?
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Was war die schönste Zeit in Ihrem Berufsleben?
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Was waren die schönsten Erfahrungen mit den Kolleg*innen?
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Was war Ihre liebste Freizeitbeschäftigung?
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Wenn die Krise vorbei ist, was werden Sie dann als erstes tun? Erzählen Sie doch einfach mal!
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Was sind Ihre besonderen Fähigkeiten? Wo können Sie sich als wirksam und nützlich erfahren trotz der Einschränkungen?
4. Materielle Sicherheit -
Wie haben Sie das geschafft mit so wenig zu Recht zu kommen?
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Wer hat mitgeholfen?
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Wer hat Sie unterstützt?
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Wann gab es fröhliche Momente? Kann man Ihrer Meinung nach etwas lernen aus diesen Situationen?
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Wenn Sie etwas mehr Geld hätten, was würden Sie damit machen?
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Was kann schlimmstenfalls passieren? Was brauchen Sie zum Leben? Was können Sie jetzt tun, um den Lebensunterhalt zu sichern? Was ist entbehrlich?
5. Werte und Ideale -
Gibt es einen Leitspruch für Ihr Leben? Mögen Sie erzählen, warum und wodurch der Ihnen wichtig geworden ist?
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Woran halten Sie trotz der Krise fest?
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Welcher Wert wächst nach Ihrer Meinung in der Krise?
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Wird sich nach Corona auch irgendetwas zum Besseren verändert haben?
Lösungsorientierte Fragen zielen nicht darauf Informationen zu bekommen, sondern darauf, dass der Gesprächspartner oder die Gesprächspartnerin für sich selbst eine andere, positive Perspektive einnehmen kann und so zu einer besseren inneren Balance findet und das Selbstwertgefühlt gestärkt wird. Wichtig ist, dass der Angerufene auf keinen Fall das Gefühl bekommt, er oder sie wird ausgefragt. Mit jeder dieser Fragen kann ein neues Gesprächsthema eröffnet werden. Der Anrufer oder die Anruferin kann darauf vertrauen, dass die Antwort auf eine ressourcenorientierte Frage beim Gegenüber (und nicht selten auch beim Anrufer oder der Anruferin) schon ein positives Gefühl hervorrufen kann. So können diese Telefonate ruhig kurz sein. Das ist auch für die Anruferin, den Anrufer wichtig, denn auch sie befinden sich zurzeit in einer Ausnahmesituation, die es erforderlich macht, auch auf die eigenen Ressourcen zu achten. Dabei helfen klare Absprachen, zu welchem Zeitpunkt man anruft und wie lange das Telefonat dann jeweils dauern kann.
Helene Eißen-Daub, Inken Richter-Rethwisch, Referentinnen für Besuchsdienst im Haus kirchlicher Dienste, Hannover