
Da machte Gott der Herr den Menschen aus Staub von der Erde und blies ihm den Odem des Lebens in seine Nase. Und so ward der Mensch ein lebendiges Wesen. (1. Mose 2,7)
Eine landschaftliche Momentaufnahme – nicht wüst und leer, doch menschenleer ist dieser fokussierte Ausschnitt einer kleinen Kulturlandschaft, die Kai Wetzel als „sonntagsleere Bühne“ bezeichnet. Die Arbeit ruht und womöglich stellt sich – als Ausgleich zur sonst hektischen Betriebsamkeit – sogar ein wenig Langeweile ein. Stille – auch im Bild. Darf ich dennoch auf eine Sehenswürdigkeit, gar ein Spektakel hoffen?
Was also gibt es hier zu sehen, das sich zu fotografieren lohnt?
Im Bild gebannt: ein brachliegender Acker im Hintergrund, zu Haufen aufgeschüttetes Erdreich, teils zu Böschungen aufgeschichtet. Spurrillen eines befahrenen, jedoch unbefestigten Weges. Ein Szenario zur Erschließung von Baugrund, die mit der Versiegelung des Bodens abschließt? Ein schmales, den Weg querendes Rinnsal und ein breiterer Zufluss, die jeweils erodiertes Bodenmaterial mit sich führen, aus dem sich schlickernd neue Ablagerungen bilden.
Beide münden in einem organförmig anmutenden Aushub, in dem sich bereits Wasser angesammelt hat und auf das der Titel der Fotografie poetisch Bezug nimmt – kleines Binnenmeer. Dürres Geäst säumt die Uferböschungen, die durch spontane Selbstbegrünung zunehmend überwachsen und durch technisches Geschick mit einem korrekten Böschungswinkel angelegt sind, um größere Abbrüche zu vermeiden.
In dem karg erscheinenden Bild ist jedoch bereits eine verdichtete Fülle zu erahnen, in seinem begrenzten Ausschnitt lässt es mich spüren, dass sich mehr als eine Alltäglichkeit abzeichnet und es ein größeres Ganzes widerzuspiegeln vermag. Der vorgefundene Ort entwickelt im Bild eine ganz eigene Kraft und Sogwirkung. Die Ruhe des Bildes entfacht zudem eine innere Unruhe in der Betrachtung, Kindheitserinnerungen werden hervorgerufen, da die Situation zum Spielen einlädt. Lässt sich dort im kleinen Binnenmeer gar ein Stück Himmel erahnen, mit einem gleißenden Reflex der Sonnenscheibe, so dassHimmel und Sonne zurück in den Schoß der Erde geholt werden, in der sich abermals das Wasser sammelt. „Es ist alles da“, so Wetzel, „Erde, Wasser, Steine, Sonne, und, man muss nur ein wenig warten, auch Leben.“
Im Titel der Fotografie werde ich einer eigenartigen Spannung gewahr, zwischen poetischem und rationaltechnologischem Blick, die sich über das Bild hinaus fortsetzt. Folgt man dieser Spannung, wird die wassersammelnde Vertiefung zu einem kleinen Meer im Landesinneren und die Böschungen zu Mittelgebirgen. In dieser Perspektive verschränken sich dann groß und klein, nah und fern, überschaubar und unübersichtlich, zeigt sich das Unbekannte im Bekannten ebenso wie sich natürliche und künstliche Prozesse durchdringen, wenn grundlegende Gestaltungen menschlicher Besiedlung und natürliches Wachstum sowie die Wirkkräfte des Wassers an der Böschung und am Boden zehren.
Gar nicht wüst und leer ist diese Szenerie, sondern voller Spuren des ordnenden menschlichen Eingriffs. Spuren dieser schöpferischen Tätigkeit lassen sich sowohl an den ausgeführten Formungen als auch den eingebrachten Materialien ablesen: das grüne Drainagerohr, das aus dem Erdreich ins Binnengewässer hineinragt, davor ein mit dem Geäst korrespondierendes Gespinst aus Draht, das vermutlich eine Verstopfung des Rohres und ein Überlaufen verhindern soll – auf dem Wasser wirkt es wie eine Zeichnung – sowie das industriell zur Weiterverarbeitung normierte Naturmaterial Holz, aus dem die errichtete Brüstung gefertigt wurde.
Trotz der reduzierten Farbigkeit der Farbfotografie wandelt sich mein erster Eindruck der landschaftlichen Eintönigkeit in ein fasziniertes Staunen, stehe ich doch als Betrachter selbst am Rande der offenen Stelle des Abhangs, dem kleinen Abgrund des Bildes. Die vermeintliche Banalität offenbart nun eine Fülle an Details und Bezügen, die über den Bildausschnitt hinausragen. So wie die schmalen Leitplanken der Verkehrssicherung ihre Schatten über den Bildrand hinauswerfen. Die partielle Begrenzungsoffenheit der Absicherung verleiht dem Bild zudem einen witzig-ironischen Unterton. Kein Spektakel und dennoch ein Ausschnitt der Welt als Attraktion.
Zwar als Einzelbild konzipiert, entgeht die Fotografie nicht einem Vergleich mit dem imaginären Konvolut an Bildern, die durch Bezüge und Differenzen den Eigenheiten des einzelnen Bildes erst Bedeutung verleihen. Sicherlich ließen sich vor dem Hintergrund der Künstlerbiographie die Wurzeln des dokumentarischen Stils im Riebesel‘schen Sinne aufspüren. Auch eine konzeptionelle Einordnung in das Œuvre des Künstlers wäre aufschlussreich. Mir kommt ausgehend vom „Kleinen Binnenmeer mit korrektem Böschungswinkel“ jedoch eine Arbeit von David Hockney in den Sinn: eine Fotocollage aus den 1980er Jahren, eine fotografische Auseinandersetzung mit der räumlichen Dimension des Grand Canyon, dem spektakulären Naturphänomen im entfernten Arizona.
Mag es der Blick in die Un-Tiefe der Schluchten der aufgenommenen Szene einer „pragmatisch zusammengeschobenen Kleinlandschaft“ (Wetzel) gewesen sein. Oder doch die nur angedeutete hölzerne Absperrung, deren Form und Platzierung mich an ähnliche Vorrichtungen erinnert, die an Naturschauplätzen zu finden oder als Aussichtsplattform konzipiert sind und den Standort des Betrachtenden so nah als möglich am Rande des Abgrundes festlegen und sichern, während der Blick in die Weite schweift.
Jedenfalls ging es Hockney darum, das Nicht-Fotografierbare des räumlich kaum erfassbaren Grand Canyon zu fotografieren, indem er die fotografische Einzelansicht auflöste und multiple, zeitlich versetzte Ansichten zu einer neuen Ganzheit zusammenfügte. So kam er zu einer Reflexion des Wechselverhältnisses von Raum und Zeit. Wetzels „Kleines Binnenmeer“ ist jedoch nicht minder attraktiv, scheint räumlich aber so überschaubar zu sein, dass kompositorisch eine einzige Ansicht genügt, um das dokumentarische wie poetische Potential des künstlerischen Interesses am Beiläufigen, an Nebenschauplätzen zur Geltung zu bringen. Auch hier spielt neben Raumwirkung und Plastizität Zeitlichkeit eine wesentliche Rolle. Die gesamte Szenerie zeigt sich als provisorische Anlage, die in der Momentaufnahme zwar festgehalten ist, ein paar Tage später jedoch bereits weiteren Veränderungen unterworfen und so nicht mehr aufzufinden zu sein mag – die spezifische Variante eines „Lost Place“. Darin kommt nun nicht nur die feinsinnige Aufmerksamkeit Kai Wetzels für banal erscheinende Alltagssituationen zum Ausdruck, sondern zudem sein spezifischer Blick für Übergänge und Abbrüche pragmatischer Gestaltungen, für vergängliche Erscheinungen kleiner und doch wirkungsvoller „schöpferischer“ Tätigkeiten und der damit verbundenen Fragilität der Lebensunterhaltung. Sein waches Auge für das Abseitige und unspektakulär Spektakuläre sind ebenso bemerkenswert wie seine kompositorische Sicherheit gegenüber der vorgefundenen Situation.
Doch will man nicht im Bild verharren, versperrt es sich keineswegs weiteren kontextuellen Über-Setzungen. Darin liegt die Qualität dieser Fotografie, dass sie sich nicht hermetisch verschlossen zeigt, sondern durch ihre Mehrdeutigkeit je nach Kontext vielschichtige Reflexionsangebote und Anknüpfungen eröffnet: Schöpfungsthematik, Nachhaltigkeitsfragen, sozioökologische Herausforderungen der Klimakrise, der Wasser- und Bodenproblematik und der Biodiversität führt das Bild mit sich.
Abschließend drängt sich mir ein zwar durch das Bild provozierter, doch über die Bildgrenze hinausgehender Gedanke auf: Die gestaltend schöpferische Tätigkeit des Menschen ist im Gegensatz zur göttlichen Schöpfungskraft stets eine nachschaffende. Sie schafft nicht aus dem Nichts, sondern agiert mit dem bereits Vorhandenen. Und dennoch: Die Freiheit des Geschöpfes Mensch birgt das Risiko, dass sich seine Handlungen in Konsequenz gegen die Schöpfung selbst richten. So geht mit dem Bild – trotz der ersprießlichen Ansätze von Wachstum – der beklemmende Eindruck einher, dass die Eingriffe des Menschen der Schöpfung zu schaffen machen; derart, dass sogar von einer neuen erdzeitgeschichtlichen Epoche, dem Anthropozän, gesprochen wird, weil der menschliche Einfluss so tiefgreifend ist. Dass trotz wissenschaftlicher Erkenntnisse, trotz hochentwickelter Fähigkeiten die menschliche Existenz eine solche Bedrohung der Schöpfung herbeiführen konnte und sich damit selbst zunehmend die Lebensgrundlage entzieht, kann verzweifeln lassen. Nun von Demut und Verzicht zu sprechen, war schon einmal unpopulärer als heute. Aus dem Nachhaltigkeitsdiskurs ließe sich zum Beispiel das Degwroth-Konzept anführen. Wie sieht es also ethisch mit dem korrekten Böschungswinkel aus? Und doch ist da Leben, wenn man nur ein wenig wartet. Doch sollte die damit verbundene Hoffnung eine rasch aktivierende sein.
Dennis Improda