Foto: HkD

Kunstwerk der Woche: „Ich war Zuhause, aber …“ von Angela Schanelec

Nachricht 25. Mai 2020

Nach zehn Minuten verlassen zwei Paare das Kino. Fünf Minuten später gehen drei weitere Personen. Der Rest, 15 Besucherinnen und Besucher und ich, bleiben. Es gibt noch Filme, die Menschen aus dem Kino treiben. Gut so. „Ich war zuhause, aber …“ ist einer von ihnen. Der Film von Angela Schanelec kam 2019 in die Kinos. Die Berliner Regisseurin erzählt darin von Astrid, die mit ihren beiden Kindern Flo und Phillip allein lebt. Ihr Mann ist gestorben. Zu Beginn des Films ist ihr Sohn verschwunden. Und taucht plötzlich wieder auf, verdreckt und verletzt. Wo er war, bleibt unerzählt. „Erzählen“, das heißt bei Angela Schanelec: Ins Stocken geraten, von vorn anfangen, schweigen, bis es nicht mehr auszuhalten ist.

„Zuschauer“ gibt es für diesen Film nicht. Wer ihn ansieht, wird zum Mitschauer, zur Gegenseherin. Der Film fordert dazu heraus, Szenen weiterzuerzählen. Wortlücken zu füllen. Er versetzt ins Warten. Standby. Warten auf Worte, die irgendwann vom Himmel fallen. Sinnfetzen fliegen durcheinander, wollen aufgefangen und neu arrangiert werden. Sätze bleiben stehen. Antwort bleibt aus. Kindermünder zitieren den Hamlet im Klassenzimmer, in Sneakers. Worte und Personen sind seltsam unverbunden. Das macht die Worte grundlegend und groß. So groß wie die Details: ein klemmender Fahrradreifen. Die leere Plastikdose im Lehrerzimmer. Die Malerleiter vor dem geschlossenen Geschäft. Scheinbar endlos wird schweigend ein Fuß verbunden. Zuweilen siegt Klang über Wort. Straßenverkehr braust einen Dialog über Schmerz und Verlust nieder. Ein Fechtkampf den Versuch, im Angesicht eines Neugeborenen etwas zu sagen. Der Mann, der Astrid ein Fahrrad verkauft, ist kaum zu verstehen, weil er aufgrund einer Kehlkopferkrankung eine Sprechhilfe verwendet. Stimmen aus einer anderen Welt.

Bild: Nachmittag Film

Astrid, Lehrerin an einer Kunsthochschule, bewegt sich in Zeitlupe durch ihren Alltag, der von weiteren Verlusterfahrungen geprägt ist: Ihr Sohn bekommt eine Blutvergiftung. Sie beginnt, ihren eigenen Kunstbegriff in Frage zu stellen. Zu einem jungen Regisseur sagt sie: „Wenn ein Schauspieler spielt, ist das immer Lüge“. Die Wahrheit erscheine erst, „wenn man nichts mehr beherrscht“. Vielleicht lässt die Regisseurin ihre Darsteller deshalb immer wieder innehalten, abbrechen, in sich verharren: um den Raum für Wahrheit zu schaffen. Lücken des Kontrollierbaren aufzutun.

„Ich war zuhause, aber …“ ist eine Zu-Mutung. Mut fällt dem zu, der mitgeht durch diese artifizielle Landschaft der Trauer. Mutig darf gerätselt werden, auch und gerade über Anfang und Ende des Films: Ein Hase wird von einem Hund gejagt, gefangen und gefressen. Ein Esel schaut dabei zu. Der Hund liegt zu Füßen des Esels. Oder doch nicht? Hase und Hund rennen in getrennten Bildern, der Schnitt bringt sie zusammen. Pure Triebe, Jagd, Hunger, Stille, Schlaf. Ohne Worte.

Angela Schanelec bearbeitet mit diesem Film ihre eigene Geschichte: Sie selbst wurde 2009 Witwe und blieb mit zwei Kindern zurück. Ihr Film macht gar nicht erst den Versuch, eine kompakte, stringente Darstellung der Erfahrung von Trauer und Verlust zu sein. Er legt Spuren in einer Welt, die zertrümmert ist und neu zusammengesetzt werden muss – von den Protagonistinnen und Protagonisten und denen, die im Kino bleiben. Sie balancieren über Steine im Bach, tastend, konzentriert, kurz vor dem Abgleiten, wie Phillip in den letzten Sequenzen des Films, Flo auf dem Rücken tragend.

Ich will das Kino auch verlassen. Immer wieder. Denn dieser Film ist vor allem eines: unerträglich schön.

Imke Schwarz, Studienleiterin Pastoralkolleg Niedersachsen