Foto: HkD

Kunstwerk der Woche: Das Evangelium der Aale von Patrik Svensson

Nachricht 18. Mai 2020

Seine Liebe zu den Aalen hat Patrik Svensson von seinem Vater geerbt. Der heutige Journalist ist in einem schwedischen Dorf aufgewachsen, von wo er mit seinem Vater loszog, um am Fluss Aale zu angeln.

In seinem neuen Sachbuch „Das Evangelium der Aale“ nimmt der Autor die Lesenden auf eine Reise durch die Kulturgeschichte des Aales mit – und verknüpft dabei die Welt der Naturwissenschaften, Philosophie, Psychologie, Theologie, Biologie und Ökologie mit seiner eigenen Biografie und der Suche nach dem Geheimnis des Lebens.

Er beschreibt die bis heute noch nicht ganz geklärte Lebensgeschichte des europäischen Aales. Laut den aktuellen Forschungen wird er im nordwestlichen Atlantik geboren, in der Sargassosee. Die ausgewachsenen Aale laichen hier und befruchten ihre Eier. Kleine Lebewesen, wie ein Weidenblatt aussehend, wachsen hier und werden dann vom Golfstrom über das Meer nach Europa getrieben. Die Reise dauert bis zu drei Jahre und auf dem Weg wächst der Aal heran, Millimeter für Millimeter. Wenn er die Küsten erreicht, ist aus ihm ein Glasaal geworden. Dann wandert er die Flüsse hinauf, wo er sich in den Gelbaal verwandelt und als Einzelgänger lebt. Im Alter von fünfzehn bis dreißig Jahren macht er eine erneute Verwandlung durch. Er tritt seinen Rückweg an und wird zum Blankaal. Mit schwarzem Rücken macht er sich im Herbst auf den Weg zurück Richtung Sargassosee. Erst auf dieser Reise entwickeln sich kleine Flossen, seine Augen werden größer und er erreicht Geschlechtsreife. Es kann bis zu drei Jahre dauern, bis er an seinem Geburtsort ankommt. Wie er ihn findet, ist bis heute nicht bekannt. Kann er wie Vögel magnetische Schwingen wahrnehmen? Riecht er seinen Weg? Oder hat er eine Art Sehnsucht in sich, die ihn an die richtige Stelle treibt? Und warum stirbt er, wenn die Eier befruchtet sind?

Seit vielen Jahrhunderten beschäftigt der Aal die Wissenschaftler und Forscherinnen. Aristoteles ging davon aus, dass der Aal aus dem Schlamm geboren wurde. Weil er keine Geschlechtsteile finden konnte, dachte er, dass er aus dem Nichts käme. Auch Sigmund Freud beschäftigte sich mit dem Aal und seiner Geschlechtslosigkeit ohne zu ahnen, dass verdrängte Sexualität mal sein Lebensthema werden würde. Aber erst im 20. Jahrhundert konnte das Geheimnis des Aals von dem dänischen Forscher Johannes Schmidt gelöst werden, der sich mit einem Boot aufmachte, an unterschiedlichen Stellen Aale zu fangen.

Patrik Svensson. Bild: Emil Malmborg

In dem Kapitel „Ein Tor werden“ beschäftigt sich Patrik Svensson mit dem Glauben seiner Großmutter und seinem Umgang damit. Seine Großmutter glaubte an die Kraft von Wünschelruten und die der Geschichten der Bibel. Er selbst beschreibt sich als nicht gläubig. Doch der Aal lässt ihn immer wieder zweifeln. „Wer einmal einen Aal sterben und dann wieder leben sehen hat, dem reicht das rationale Denken nicht mehr aus. Man kann fast alles erklären, man kann über die verschiedenen Prozesse der Sauerstoffversetzung und des Stoffwechsels diskutieren oder über die schützenden Sekrete des Aals und seine besonders angepassten Kiemen. Aber ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Ich bin Zeuge. Ein Aal kann sterben und dann wieder leben.“

Das genaue Betrachten der Natur verlangt von dem Journalisten, sich mit seinen Prägungen und Un-Glaubenssätzen auseinanderzusetzen. Sein Begleiter, der Aal, schärft sein eigenes Lesen. Und so liest er Sätze aus der Bibel neu: „Etwas später spricht Paulus über die Verwandlung, dass der Tod nicht das Ende sei, sondern eine Metamorphose sei: ‚[...] wir werden alle verwandelt werden – plötzlich, in einem Augenblick, beim letzten Posaunenschall. Die Posaune wird schallen, die Toten werden zur Unvergänglichkeit auferweckt, wir aber werden verwandelt werden.’“

Patrik Svensson fesselt mit seinem spannenden Nature-Writing-Buch von der ersten Seite an. Er verbindet die großen Fragen des Lebens mit seinen bildreichen Erinnerungen und den eindrucksvollen Beschreibungen dieses Geheimnistieres zu der tiefen Erkenntnis, dass nichts aufhört, sondern sich nur verwandelt.

Dirk Brall, Intendant Literaturhaus St. Jakobi Hildesheim