Wer Anfang März, noch kurz vor dem Lockdown, keine Gelegenheit zur unmittelbaren Begegnung mit der zugleich monströs, massiv, kolossal wie auch filigran, flüchtig, schwebend anmutenden Skulptur „Rauschen“ von Katinka Bock in der gleichnamigen Ausstellung der Kestnergesellschaft hatte, kann dies derzeit nur medial vermittelt quasi nachholen. Die Chancen, die sich durch die von vielen Ausstellungshäusern derzeit engagiert aufbereiteten Hintergrundinformationen für die Vermittlung eröffnen, können jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die unmittelbare sinnliche Erfahrung vor Ort nicht einfach durch digitale Angebote zu ersetzen ist.
Ein historischer Rückgriff auf das ausgehende 19. Jahrhundert sei hier gestattet, als die etablierten fotografischen Reproduktionsverfahren einen ersten Aufschwung der medialen Verbreitung von Kunstwerken herbeiführten, die vielen schon damals wie eine Bilderflut vorkamen. Bereits dreißig Jahre vor dem Bau des Anzeiger-Hochhauses (1927-1928) machte der Kunsthistoriker Heinrich Wölfflin in einem Artikel mit dem Titel „Wie man Skulpturen aufnehmen soll“ (1897) wohl aus gegebenem Anlass auf eine fotografische Vermittlungsproblematik der angemessenen Perspektive aufmerksam. Nun handelte es sich in seinem Fall zwar um altertümliche Figurendarstellungen, denen der Kunsthistoriker in exemplarisch dargelegten Fotografien die künstlerisch intendierte Hauptansicht verweigert sah – mehr noch kritisierte er die falsch ausgerichtete Aufstellung der Skulpturen bereits im musealen Raum.
Mit dieser aus dem kunsthistorischen Hintergrundrauschen hervorgehobenen Stimme kehren wir zur gegenwärtigen Installationsansicht in der Kestnergesellschaft zurück. Keineswegs in kritischer Absicht, sondern vielmehr weil in diesem erstaunlichen Fingerzeig bereits grundlegende, überdauernde Wahrnehmungsbedingungen – nicht nur von Kunstwerken – angesprochen sind.
Trotz des historischen Wandels ist bemerkenswert, dass solche Fragen der skulpturalen Ansicht(en) wie der Einbeziehung der Skulptur in den Raum – wenn auch mit veränderten Vorzeichen – hinsichtlich der erzeugenden Wirkungen weiterhin virulent bleiben.
Wie sehr sich die Wirkung des Objektes im Raum verändert, wird anschaulich, vergleicht man die aktuelle Präsentation mit derjenigen in Paris im Herbst letzten Jahres: Durch eine senkrechte Hängung der neun Meter großen Skulptur wurde dort die Anmutung eines überdimensionalen Kokons ebenso provoziert wie auch eines aufgebrochenen Korpus, in welchen der Blick an den fließenden Konturen entlang Eintritt erlangt. In der Kestnergesellschaft kommt das Objekt nun zum Erliegen und erinnert in einer Hinsicht mit den verschieden grün-türkis patinierten, abgestuft sich überlagernden Schichtungen an einen schützenden Schuppenpanzer, ein fossiles Relikt; in anderer Hinsicht wird die bauchige Form zu einer abgeschälten Haut oder Hülle, die nun, einem tunnelähnlichen Gehäuse gleich, einen Binnenraum erzeugt, der Behausung und Unterschlupf böte. Verborgenes wird auch hier zugänglich.
Wir erleben also, indem wir uns um die Skulptur herum bewegen, wie neue Einsichten und Durchsichten sich eröffnen. Je nach Ansicht springen formale Analogien der Gebäudestruktur, der Fenstersprossen und Laibungen ins Auge. Das Objekt bildet einen inneren Raum, einen materiellen Raum im architektonischen.
Indem wir uns durch den Raum bewegen, erleben wir, wie sich die Form stets verändert. Die Skulptur ist mehransichtig, aber es gibt eine Längsausrichtung, die dem Ausstellungsraum entspricht. Sehen und Bewegen gehen ein in eine fortlaufende, wechselseitige Provokation. Indem wir uns der Skulptur nähern, wechselt der Distanzblick in Nahansichten. Nun werden Spuren auf den Kupferplatten, die einst die Kuppel des Anzeiger-Hochhauses bedeckten, sichtbar.
Die Widerständigkeit des Materials, das von Katinka Bock ohne weitere künstlerische Eingriffe wiederum in die Skulptur integriert wurde, fungiert auch hier als Außenhaut und Grenze zur Umwelt und wird als Aufzeichnungs- und Speichermedium herausgestellt. Wiederum neue Räume eröffnen und Zeitbezüge überkreuzen sich. Ein mediales Rauschen, ein historisches Rauschen der Vergangenheit wird vernehmbar, aus welchem sich Strukturen als historische Einschreibungen herausbilden. Architektonische Gebäudestrukturen überlagern sich mit Wahrnehmungs- und Imaginationsräumen. Das „Doppelleben der Spur“, wie Sybille Krämer es in Ihrem Beitrag „Immanenz und Transzendenz der Spur“ (2007) prägnant bezeichnete, ermöglicht, dass wir uns über das Sichtbare auf das Unsichtbare beziehen können und das Abwesende im Anwesenden stets mit thematisiert wird. Dieser Verweisungszusammenhang konstituiert Sinnbildung, die ihre Grundlage in den komplexen Ordnungsprozessen der Wahrnehmung hat, in welcher Wirklichkeit erst der Erfahrung entspringt und nicht als vornherein gegebene Welt allein wahrnehmend abzubilden wäre. Wenn wir also mehr sehen als das, was wir sehen, ist unsere Aufmerksamkeit an der Umgestaltung des Wahrnehmungsfeldes mitbeteiligt: Erhält ‚etwas als etwas‘ ein besonderes Gewicht oder tritt ‚etwas als etwas‘ hervor, kommt es vor einem ‚rauschenden‘ Hintergrund erst zur Erscheinung und nimmt eine prägnante Gestalt an (vgl. hierzu die Ausführungen des Phänomenologen Bernhard Waldenfels in „Das leibliche Selbst“ 2000, S. 62ff).
Nun sind auch die Fotografien der Installation in der Kestnergesellschaft fixierte Ansichten. Damit stehen wir an der äußersten Grenze des (Ausstellungs-)Raumes und dem architektonischen Raum in dieser Fotografie mehr gegenüber als dass wir uns bereits in diesem befänden. Die gesamte Skulptur ist damit ebenso wenig zu erfassen wie ich diese in unmittelbarer Begegnung erfassen könnte. Doch im Raum drin-stehen und diesen auszuhalten, eröffnet ein anderes Ver-halten und damit auch ein verändertes Ver-stehen. Auch wenn sich durch die fotografischen Aufnahmen der Blick fokussiert und sich hierdurch ein neuer medialer Raum eröffnet, sich also neue Raumanschlüsse bieten, so wird unsere umfassendere Wahrnehmung dennoch auf unseren Gesichtssinn reduziert. An-sichten eröffnen demnach Ein-Sichten und unsere Bewegung durch den Raum lässt uns mit den Füßen sehen.
Das Phänomen der Raumgrenzen erforscht mit Ihren ortsbezogenen Arbeiten auch die Künstlerin Katinka Bock: „Der interessanteste Teil eines Raumes ist sein Rand, seine Grenze zu einem anderen Raum.“
Diese Produktivität, die sich innerhalb der Wahrnehmung abzeichnet, korrespondiert mit den künstlerischen Transformationsprozessen. Dass sich die Form in der Bewegung der Betrachtung um die dargelegte Skulptur herum verändert, also mehransichtig ausgerichtet ist, hat seine Entsprechung im grundlegenden Vorgehen der künstlerischen Formfindung durch die Künstlerin, das sich einerseits durch ein striktes Vorgehen, andererseits jedoch ohne vorherige Bestimmung der abschließenden Form kennzeichnen lässt. Das bedeutet: auch hier ist ein Moment der Offenheit prägend. Mit Keramikplatten umhüllte Objekte werden im Ofen gebrannt. Während die Objekte verbrennen, bleiben die Keramikplatten als Negativform der zerstörten Gegenstände zurück. Die Form der Skulptur entspringt einer solchen Formfindung, die ausgewählte Umhüllung wurde schließlich vergrößert. Die Negativform zeugt somit ebenfalls als Spur von der Abwesenheit des ursprünglichen Objektes und erschafft einen neuen Raum. Nimmt in dieser vergrößernden Nahaufnahme nun das Rauschen zu oder ab oder bleibt es gleich?
Ver-stehen wird möglich, indem wir selbst im Raum stehen und nicht diesem bloß gegenüber. Die Ausstellung soll eine Verlängerung bis zum 23. August 2020 erfahren, so dass sich die bisher verpasste Gelegenheit einer unmittelbaren Begegnung doch noch nachholen lässt.
Text: Dennis Improda