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Kunstwerk der Woche: Das Treppenhaus

Nachricht 02. Juni 2020

Ästhetik, (Dis-)Kontinuität und Analogie oder das Treppenhaus im Ministerium für Wissenschaft und Kultur des Landes Niedersachsen in Hannover, erbaut 1952

Bis zu einem gewissen Alter – ich nenne keine Zahlen – galt mir die Architektur und Formensprache der 1950er Jahre als nüchtern und langweilig, um nicht zu sagen piefig, unspektakulär und schnöde. Irgendwann änderte sich das, so wie ich auch erst in reiferen Jahren Johnny Cash für mich entdeckte und Countrymusic nicht mehr prinzipiell verachtete, ja als reaktionär verdammte.

War es bei der Countrymusic die Entdeckung der späten Americana Alben des großen Johnny Cash so war es im Falle der 1950er-Jahre-Architektur die Wahrnehmung der oftmals wunderbaren Treppenhäuser der damaligen (Groß-) Bauten, die das Fundament für meine nun differenziertere und wohlwollendere Rezeption der Bauwerke dieser Zeit legte. So sachlich nüchtern die Rasterfassaden vieler größerer 50er-Jahre-Bauten sind und wirken, so spektakulär raumgreifend und schwungvoll kommen etliche ihrer ‚Innereien‘ daher, vornehmlich die Treppenhäuser, die mit überraschend kühnem Schwung und ungewöhnlich kessen Rundungen quasi sinnbildlich für den Charme dieser Architekturepoche stehen.

Das ehemalige Preussag-Gebäude, heute Sitz des Ministeriums für Wissenschaft und Kultur des Landes Niedersachsen, am Leibnizufer zu Hannover gelegen und dort 1952 errichtet, repräsentiert ein schönes Beispiel für diese drei Stilmerkmale der Architektur seiner Entstehungszeit: Es weist erstens eine geometrisch streng gegliederte Ordnung seiner drei zusammenhängenden Baukörper auf, die allesamt von einer einheitlichen Rasterfassade nach außen hin geprägt sind. Ein mittelhoher Längsbaukörper wird von zwei Querkörpern seitlich eingefasst. Der eine mit dem Haupteingang, -foyer und -treppenhaus ist dabei deutlich höher und wuchtiger in der Anmutung als der andere, dessen Höhe den Längskörper nicht übersteigt. Insgesamt entsteht ein monumentaler, repräsentativer und klarer Eindruck des gesamten Ensembles. Zweitens zeigt sich hier sehr deutlich der Wille zur Größe, oder neudeutsch gesagt: Damals wusste man noch sehr genau und baute dann auch so, dass dieses ein- und umgesetzt wurde: size matters.

In klarem Kontrast zur oftmals strengen Rasterung und nüchternen Gestaltung außen wurden in diesen Gebäuden zudem drittens gerne opulent anmutende, ausladend daherkommende, geschwungene Treppenhäuser verbaut. Auf die Verspieltheit und gleichzeitig Konsequenz der Kurvenführung dieser Innereien oder innenarchitektonischen Juwelen ist man vom Außeneindruck der Gebäude her gar nicht vorbereitet. Umso beeindruckender kommt dann ein Treppenhaus wie dasjenige im hinteren Bereich des Eingangsfoyers im heutigen Ministerium für Wissenschaft und Kultur daher. Stellt man sich direkt unter die hoch hinausstrebende Treppenanlage, so bekommt man einen optischen Eindruck, der an ein gigantisches Schneckenhaus mit kaum enden wollender Spiralform erinnert.

Zwei zeittypische Spezifika der Treppenhausgestaltung fallen dabei besonders ins Auge. Zum einen die besonders auffällig im Vergleich zu späteren Bauzeiten daherkommende Liebe zu Kurven und Rundungen in raumgreifender und gerne auch lichtdurchfluteter Ausschweifung. Zum anderen die Detailverliebtheit in der gestalterischen Ausführung – am Beispiel des hier in den Fokus gerückten Treppenhauses deutlich werdend in der Veränderung der das Geländer dieser Wendeltreppe bildenden und stützenden Streben, von denen hier jede elfte in Farbe und Figur andersartig erscheint und so auch für eine optische Rhythmisierung sorgt sowie dem Grundsatz huldigt, dass Variation erfreut.

Der für dieses Gebäude maßgeblich verantwortlich zeichnende Architekt Gerhard Graubner (1899 – 1970) hat nicht nur zahlreiche heute als typisch für die 1950er Jahre geltende Gebäude entworfen und realisieren lassen – darunter so Bekanntes und Stilprägendes wie das berühmte Bochumer Schauspielhaus – er lehrte auch für fast drei Jahrzehnte als Professor für Entwerfen und Gebäudekunde an der Technischen Hochschule (TH) Hannover.

An Person und Wirken Graubners lässt sich eine typisch deutsche Art und Geschichte der Kontinuität und Diskontinuität von der Weimarer Republik über die Zeit des nationalsozialistischen Unrechtsregimes bis hin zur Bonner Republik festmachen und studieren: In den 1920er Jahren wurde er als Diplom-Ingenieur der TH Stuttgart zu einem relevanten Vertreter der sogenannten „Stuttgarter Schule“ und arbeitete als Regierungsbaumeister im Staatsdienst. In den 1930er Jahren war er als freier Architekt an Bauten wie dem Olympiastadion in Berlin beteiligt. 1939 trat er in die NSDAP ein und arbeitete als Beauftragter des Gauleiters in Düsseldorf am Ausbau der Stadt. In der Zeit nach dem Krieg prägte er sowohl durch seine Lehre an der TH als auch durch seine Aufträge und Bauten etliche Schüler und Mitarbeiter, die selber erfolgreiche Architekten wurden.

Der ‚Wille zur Größe‘ der 1950er-Jahre-Architektur hat vor diesem Hintergrund betrachtet natürlich eine Vorgeschichte, ebenso wie der betont repräsentative Zug vieler Bauten dieser Epoche. Und beides ist zurückhaltend formuliert nicht frei von dem, was der Schwabe ein „Geschmäckle“ nennt.

Gleichzeitig gibt es für die kühn geschwungenen, erhaben anmutenden, lichtdurchfluteten und teils freischwebend wirkenden Treppenhäuser und -läufe, -gänge sowie -fluchten eine Analogie speziell zum Kirchbau. Gerade das Moment des verschwenderischen Umgangs mit dem Raum im Gegensatz zu einer ökonomisch-funktionalen Sichtweise und Nutzung desselben erinnert an das, was viele im doppelten Wortsinne großen Kirchbauten ausmacht: die Großzügigkeit, das Erhabene, Lichtdurchflutete, das Hohe und Weite im Überfluss und Überschuss sowie mancherorts gerade auch das Überraschende. All das ist es, was in einem Kirchbau dazu beitragen kann, den Besucher*innen eine Ahnung dessen zu vermitteln, was Transzendenz ist und wie wenig Gott, der Gnädige, Großzügige und Erhabene, der ganz Andere und Unermessliche durch menschliche Bauten erfasst oder gar eingeschlossen werden kann. Ein Bau, dessen Anmutung und Ästhetik in die Richtung des Großen und Schwungvollen, des Lichten und Hellen, des Hohen und Weiten, des Ungewohnten und Überraschenden weist, kann also eine Ahnung davon entstehen lassen, was sich architektonisch unmöglich fassen , abbilden, einbauen lässt: die Größe des biblischen Gottes oder – anders gesagt – die Transzendenz.

Dr. Matthias Surall